Nahid ist Iranerin und darf trotz gegenteiliger Annahmen auch ohne ihren Mann vor die Tür. Als Dolmetscherin und Betreuerin im Frauenhaus erhält sie oft Einblicke in Schicksale, die ihr zum Glück erspart blieben. Nahid empfindet es als Geschenk, dass sie als Wahl-Schweizerin das Beste aus zwei Kulturen leben darf.
Nahid und ihr Mann sind in den 80-er Jahren aus dem Iran geflüchtet. Über Deutschland und Zürich führte sie ihr Weg im Jahr 2000 nach Chur, wo sie seither leben. Sie haben drei erwachsene Kinder, vier Enkelkinder und sie haben – das ist das wichtigste für sie – hier eine neue Herzensheimat gefunden.
Ein Interview von Mena Dressler
Was genau machst du beruflich?
Seit ich in der Schweiz bin, arbeite ich als Dolmetscherin. Ich habe Einsätze in Zürich, im Aargau, in Glarus, in St. Gallen und in Graubünden. Im Laufe der Jahre habe ich viele Weiterbildungen und Sprachkurse absolviert. Deutsch ist keine einfache Sprache, da muss ich immer am Ball bleiben. Seit 2018 arbeite ich ausserdem als Betreuerin im Frauenhaus in Chur, inklusive Nachtschichten und Wochenenddienste. Nebenbei engagiere ich mich auch freiwillig und helfe anderen, wenn sie meine Sprachkenntnisse brauchen.
Was hat dich dazu bewogen, Dolmetscherin zu werden?
Zum Dolmetschen kam ich eher zufällig. Ich war erst Anfang 20, als ich in Deutschland landete – wenn man so jung ist, lernt man eine neue Sprache sehr schnell. Eines Nachts wurde ich von der Polizei gebeten, bei der Verständigung mit einer persischen Flüchtlingsfamilie zu dolmetschen. Durch meine Sprachkenntnisse konnte ich beiden Seiten helfen. Das hat mir gefallen und war für mich der Auslöser, Dolmetscherin zu werden. In dem Beruf ist es meine Pflicht, alles was gesagt wird, korrekt zu dolmetschen. Ich darf nichts weglassen oder dazu erfinden, sondern muss mich immer darauf konzentrieren, den Beteiligten zu helfen. Zu dem Job im Frauenhaus kam ich durch eine Freundin. Da die schutzsuchenden Frauen häufig Migrantinnen sind, wollte man gezielt Migrantinnen im Team haben, damit die Verständigung für beide Seiten einfacher ist.
Welche Vor- oder Nachteile gibt es deiner Meinung nach als Frau in deinem Job?
Als Dolmetscherin weder noch. Und wenn ich doch mal einen Nachteil haben sollte, dann kämpfe ich. (lacht) Ich lasse nicht zu, dass ich benachteiligt werde, nur weil ich eine Frau bin.
Was ist das Schönste an deinem Beruf, was erfüllt dich?
Ich bin einfach glücklich, wenn ich durch meine Arbeit beiden Seiten helfen kann. Wenn zum Beispiel eine Ärztin sagt, dass sie ohne mein Zutun der Patientin nicht hätte helfen können: Das ist es, was mich erfüllt und was den Beruf für mich ausmacht.
Nahids Hochzeitstag, der 25. Februar 1982.
Nahids Eltern am Tag ihrer Hochzeit.
Nahids Mann an einer Demonstration gegen das islamistische Regime im Iran (1997).
Was gefällt dir nicht an deinem Beruf?
Gewalt. Sie ist leider allgegenwärtig und ich komme fast täglich damit in Kontakt, das ist oft sehr belastend. Gerade Gewalt gegen Frauen oder Kinder macht mich unendlich traurig. Persönlich habe ich so etwas zum Glück nie erlebt, aber ich habe viel gesehen – ich weiss also, wovon sie reden. Manche Geschichten sind so grausam, die kann man nicht vergessen, die bleiben einem.
Oder wenn ich zwischen Patientin und Arzt vermitteln muss und wir alle drei weinen: So etwas nehme ich natürlich mit nach Hause. Zu einigen Frauen baue ich durch die intensive Arbeit eine persönliche Bindung auf, aber manchmal muss ich mich distanzieren, um mich selbst zu schützen.
Zum Glück gibt es sowohl in der Dolmetsch-Zentrale als auch im Frauenhaus Supervisions-Stellen, an die ich mich wenden kann, wenn ich Hilfe und Unterstützung brauche. Ausserdem kann ich mit meinem Mann darüber reden – natürlich ohne Details zu nennen.
Was ist deine treibende Kraft? Was hilft dir, mit den belastenden Themen umzugehen?
Meine Familie. Mein Mann und ich sind seit 40 Jahren verheiratet. Ohne seine Hilfe würde ich das alles gar nicht schaffen. Er unterstützt mich und gibt mir die Kraft, die ich brauche.
Wie reagiert deine Familie auf deinen Beruf?
Sie sind glücklich, wenn ich glücklich bin. Mein Mann hat mir noch nie Vorwürfe gemacht, wenn ich schwierige Themen mit nach Hause gebracht habe und dadurch vielleicht traurig oder bedrückt war. Er stellt nie Fragen, aber er ist immer für mich da, wenn ich jemanden zum Zuhören brauche.
Nahid und ihr Mann im Herbst des ersten Jahres in ihrer Wahlheimat Graubünden.
Nahid, ihr Mann und die beiden gemeinsamen Söhne bei der Farah Diba, der Witwe des iranisches Schahs Reza Pahlavi (2010).
Hast du mit Vorurteilen zu kämpfen? Und wenn ja, mit welchen?
In meinem Job nicht, im Gegenteil. Ich werde fast zu viel gebraucht: Tagsüber dolmetsche ich, nachts arbeite ich im Frauenhaus … Da bleibt nur wenig Zeit für mich und meine Familie.
Aber in anderen Bereichen des Lebens bin ich als Migrantin schon manchmal mit Vorurteilen oder Klischees konfrontiert. 2003 habe ich eine Bibliothekarinnen-Ausbildung in der Kantonsbibliothek hier in Chur gemacht. Im Anschluss an die Kurse sind wir abends noch gemeinsam etwas trinken gegangen – und ich wurde gefragt, ob mein Mann Schweizer sei oder warum ich so spät abends noch allein unterwegs sein dürfe. (lacht) Das war das Bild, das Schweizerinnen vor 20 Jahren von iranischen Frauen hatten. Natürlich gibt es solche Fälle immer noch. Im Frauenhaus erlebe ich es immer wieder, dass Frauen von ihren Männern praktisch eingesperrt werden – auch von Schweizer Männern. Aber Menschen machen Fehler, alle Menschen, egal ob Schweizer oder Migranten. Ich setze mich dafür ein, dass die Menschen hier offener werden und dass solche Bilder, solche Vorurteile, aus den Köpfen verschwinden.
Wie begegnest du diesen Vorurteilen, diesen Reaktionen?
Ich bin aus dem Iran geflüchtet und durch Zufall in der Schweiz gelandet. Dieses Land ist jetzt meine neue Heimat, hier muss ich mich anpassen, sei es an die Menschen und ihre Mentalität oder an die Kultur. Aber das heisst nicht, dass ich meine Herkunft verleugnen muss, im Gegenteil. Solange es geht, gebe ich meine iranische Kultur an meine Kinder und Enkelkinder weiter. Ich kann mir das Beste aus beiden Kulturen heraussuchen und vermischen, das ist doch ein tolles Geschenk. (lacht)
Meine elfjährige Enkeltochter ist begeistert, dass wir neben dem Schweizer Neujahr auch das persische Neujahr feiern. Dass sie beide Kulturen freiwillig mit Freude lebt und stolz drauf ist, halb Perserin zusein, das macht mich glücklich.
Was denkst du, welche Stärken haben Frauen, derer sie sich (immer noch) zu wenig bewusst sind?
Frauen sind sehr emphatisch. Ich bin leider in einem Land mit viel Gewalt aufgewachsen, darum habe ich viel mehr Verständnis und Empathie für solche Themen als Menschen, die noch nie in ihrem Leben damit in Kontakt waren. Trotzdem glaube ich, dass alle Frauen viel mehr Potential für Empathie haben, als sie oft meinen. Und: Frauen sind Kämpferinnen. Hier in der Schweiz herrscht noch lange keine Gleichberechtigung und es ist gut, wenn die Frauen hierzulande dafür kämpfen. Anders als in meinem Heimatland geht es aber dabei zum Glück nicht um Leben und Tod. Hier müssen kämpfende Frauen keine Gewalt fürchten, sondern sie können die Kämpfe in Ruhe und Frieden austragen, das ist gut so.
Du willst mehr wissen?
Nahid erzählt Ihre Geschichte im Buch «Frauen schaffen Heimat». Im Zentrum des Buches stehen die Autobiografien von 24 Migrantinnen, die in Graubünden wohnen und deren Identität sich zwischen zwei Kulturen bewegt.
«Khurer Katza kasch küssa …» Diesen oder einen ähnlichen Spruch hat sich sicher jede Frau aus Chur ausserhalb des Kantons schon einmal anhören müssen. Was möchte man uns damit sagen? Dass Churer Frauen nichts können? Wir drehen den Spiess um. Wir lassen «Khurer Katza» zu Wort kommen und zeigen, was sie wirklich können.
Für unsere Kampagne haben wir sieben Frauen interviewt, die aus Chur stammen oder in Chur tätig sind. Sie erzählen über ihre Vergangenheit, ihren Alltag, über Vorurteile in der Gesellschaft und wie sie diesen begegnen, aber auch über die Vorteile als Frau. Wir beleuchten ihre Lebensentwürfe, räumen auf mit Klischees – und verwandeln den negativ konnotierten Spruch in etwas Positives.